Es gibt so Orte und Landstriche … Da war ich noch nie. Und trotzdem verbinde ich schon ziemlich viel Konkretes mit ihnen. Tirol gehört für mich dazu. Maronenbäume und tolles Essen, großartige Landschaft. Und tatsächlich auch so etwas wie „handfestes Leben“, Handgemachtes, Handwerk eben – und zwar im besten Sinn. Entsprechend begeistert war ich, als ich las, dass meine Textnetzwerk-Kollegin Susanne Gurschler ein Buch über das Handwerk in Tirol geschrieben hat: „Wo Können auf Leidenschaft trifft“. Dann bekam ich Post vom Tyrolia-Verlag – und war erst einmal baff: So ein tolles, großes, reich und wundervoll bebildertes Buch mit Fotos von Kary Wilhelm! Schon in Gurschlers Vorwort traf ich auf eigene Gedanken: „Ein handgearbeitetes Stück ist mehr als die Summe aller Arbeitsschritte und weit mehr, als die Summe, die man dafür zahlt. Es spiegelt Wertigkeit, Beständigkeit und es vermittelt Identität.“ Genau das würde ich glatt auch über das Buch selbst sagen!
Handwerk in Tirol: Federkiele, Brillen, Loden und viel mehr
Worum geht es, welche Handwerks-Materialien kommen vor? Fast alle, die sich denken lassen: Leder, Holz, Metall, Textil, Stein, Porzellan, Glas und Seife. Dabei eher bekannte Berufe wie ein Lampendesigner – der baut seine Lampen aber aus Holz! Oder eine Keramikerin – doch die fertigt keramische „Prinzessinnen“ … Weiter kommen vor: Ein Schmied, der darauf besteht, dass man an jedem seiner Stück erkennt, dass es handgemacht ist, ein Blechblasinstrumentenbauer und viele mehr. Dann aber auch Dinge, die man nicht unbedingt in Tirol vermuten würde – etwa die Holzschuherzeugung. Und Sachen, von denen habe ich noch nie gehört … Federkielstickerei und das Dogglmachen zum Beispiel. Andere Handwerkskunst klingt zwar bekannt, ist es aber eher nicht – jedenfalls nicht in der Form, in der in Tirol gearbeitet wird. Dazu gehören die Fertigung von und aus Sämischleder, Brillengestelle aus Holz, Stein, Horn oder Titanium, der Steindruck oder die Arbeit des Metallgraveurs, der auch als Mikroschnitzer arbeitet. Eher den Erwartungen entspricht da schon die Arbeit des Rodelbauers – aber was bitte ist ein Gallzeiner?! Textile Erzeugnisse spielen eine wichtige Rolle, die Handweberei wie die Lodenerzeugung und die Trachtenschneiderei.
Wo Dinge Geschichten erzählen
All das ist hoch spannend: Die Menschen dahinter, die jeweiligen Geschichten … Die Geschichte der Handwerkskunst, ihrer Tradition und der Form, in der sie (oft nur ganz knapp) überleben konnte, die Geschichten, in denen Ort und Handwerk miteinander verbunden sind, die Frage nach der Tradition in den ausübenden Familien – wird das Handwerk weitergeführt? Von alldem erzählt Susanne Gurschler bei allen porträtierten Menschen und Handwerksformen. Kenntnisreich, geduldig und mit spürbar echtem Interesse an den Menschen und ihrer Arbeit. Ich persönlich finde dabei ja vor allem die Details bemerkenswert … Etwa, wenn Gurschler am Beispiel des Lederdesigners Gregor Mair erläutert: „Geöltes Leder bewahrt Rotweinflecken und Soßensprengsel, Regentropfen und Ölspritzer. Mit der Zeit beginnt es, eine Geschichte zu erzählen, die des Trägers, der Trägerin und seine eigene.“ Oder wenn der Lampendesigner Stefan Fuchs seine nur auf den ersten Blick ungewöhnliche Faszination für den Werkstoff Holz erläutert: „Ich wollte etwas Neues, etwas, das die Strahlkraft dieses Holzes sichtbar und spürbar macht.“
Hartnäckig, widerspenstig – und rundum gelungen
Aber auch Entwicklungslinien sind wichtig – beispielsweise, dass „die Tiroler Pfeife und der Tiroler lange Zeit eins“ waren, wie Pfeifenmacher Ludwig Lorenz ohne Probleme an historischen Fotos nachweisen kann. Heute ist er Tirols einziger Pfeifenmacher. Besonders schön finde ich die Geschichte des Villgratentals. Dessen Tourismusverband warb Anfang 2000 mit dem Slogan: „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts.“ Und seltsamerweise funktionierte das. Seltsam?! Vielleicht auch nicht, denn all die – auch überregionalen – Medien, die diesen Slogan interessant fanden und dorthin kamen, trafen auf einen „hartnäckigen, widerspenstigen Menschenschlag“. Das passte ganz einfach. Und so ähnlich scheint es mir auch mit der Vielfalt des Tiroler Handwerks zu sein: Es ist sehr eigenständig, hartnäckig und „widerspenstig“. Das beweist beispielsweise auch ein Zitat des Schmieds Alfons Steidl: „Etwas zu machen, was andere nicht machen, das ist uns gelungen – glaube ich.“
Vom Herzschlag eines Hauses und der Seele eines Buches
Was für die Menschen gilt, macht auch vor Gebäuden nicht Halt: Über das Haus, in dem die Trachtenschneiderin Helene Mayr ihre Werkstatt hat, schreibt Gurschler: „Das Haus ist eines dieser Häuser, dessen Herzschlag man hört. Gleichmäßig, stark und unerschütterlich. Mauerwerk, getragen von Geschichte, fest wie ein Fels.“
Sowohl die Texte von Susanne Gurschler wie die Fotos von Kary Wilhelm geben einen sehr guten Eindruck von dieser Widerständigkeit, der Unerschütterlichkeit der Dinge, Menschen, Häuser, von Arbeitsabläufen und Natur, von Materialien und dem notwendigen Zusammenspiel zwischen all diesen Faktoren. Und darum ist dieses Buch für mich mehr als opulent, gut gemacht, hochwertig in seiner Ausstattung … Das ist alles wahr. Doch so ganz nebenbei hat dieses Buch auch noch Seele. Und das ist wirklich selten.
Buch bestellen?
Das Buch gibt es direkt über den Tyrolia-Verlag hier. Es hat 232 Seiten, 253 farbige Abbildungen – und ist natürlich auch ein ideales (Weihnachts-)Geschenk. Preis: 39,95 Euro. Es kann auch überall bestellt werden, ISBN-Nummer: 978-3-7022-3811-7
Anmerkung
Niemand zahlt mich für diese Buchbesprechung. Das Buch allerdings wurde mir kostenfrei vom Verlag zur Verfügung gestellt – danke!